Phantom: Aufzeichnungen eines ehemaligen Sträflings

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Meine Frau hat mir das kleine Zimmerchen in der Frontspitze eingerichtet; darin sitze ich nun. Gegenüber rauscht der Dorfbach unter Eschen und Weiden. Ich höre unter mir die Schelle des Kramlädchens, das meine Frau versorgt. Es geht gut und ernährt uns vollkommen bei bescheidenen Ansprüchen. Ich werde aber noch etwas anderes anfangen müssen. Erstlich bleibt mir freie Zeit, alsdann habe ich geistige Bedürfnisse. Übrigens ist mir sehr wohl, und ich fühle mich wie in Abrahams Schoß. Ich rauche Pfeife. Das kostet mich so gut wie nichts, denn wir haben den Knaster im Kramladen. Rauchen belebt die Phantasie. Es macht zugleich ruhig. Ich gewinne dadurch die Fähigkeit, gleichzeitig einen Zustand angenehmer Muße zu empfinden und mit der Feder meine Gedanken aufzuzeichnen. "Schreibe doch", sagt übrigens meine Frau, "es kann ja möglicherweise ein Buch daraus werden." Ich schreibe alles ganz einfach so hin, was mir durch die Seele geht. Wenn es mir übrigens gelänge, ein Buch zu machen, warum sollte ich nicht auch ein zweites, ein drittes schreiben können? Dann wäre ich Schriftsteller. Auf die natürlichste Weise hätte ich dann die gesuchte Nebenbeschäftigung gefunden. Dieses Haus, das mein Schwiegervater vor einem halben Jahr gekauft hat mitsamt dem Kramlädchen, hat ja auch der Witwe eines ähnlichen Menschen gehört. Sie hieß Frau Wander. Wander war Schullehrer und hatte wegen gewisser Ansichten seinen Posten aufgeben müssen. Er fand nach langem Umherirren, wie ich, dies Asyl und darin sein Auskommen. Seine Lebensarbeit, die er möglicherweise in demselben Zimmer begonnen und vollendet hat, ist ein fünfbändiges deutsches Sprichwörterlexikon. Ich bin hier vorläufig unbekannt. Meine Frau und mein Schwiegervater haben dies Dörfchen im Hirschberger Tale ausgesucht, weil sie nicht wollten, daß immerfort Anlaß gegeben würde, über meine "Irrfahrten" zu reden, aber auch aus dem Grunde, um mich aus einer Umgebung zu bringen, die auf Schritt und Tritt in mir Erinnerungen wecken und wachhalten müßte. Da fällt mir ein: bin ich nicht eben dabei, ihre Absicht zu durchkreuzen? Ja und nein. Wenn ich hier über mein Schicksal nachdenke, einen Überblick meiner Vergangenheit zu gewinnen suche und mich bemühe, alles mir Denkwürdige mit Wahrhaftigkeit aufzuzeichnen, so ist dies unter anderem der Versuch, mich aus dem Banne der Erinnerungen freizumachen, und ganz etwas anderes, als unfreiwillig wieder in ihren Bann zu geraten, was wahrscheinlich in Breslau geschehen würde. Ich wünsche ...

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Gerhart Hauptmann lebte von 1862 bis 1946 und war ein deutscher Schriftsteller.

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